Mittwoch, 23. Mai 2012

Wie ich dazu kam...


Tja, spätestens dann ist eben der Moment gekommen, in dem einem zum einen auffällt: „Okay, es stimmt tatsächlich, dass wir in Deutschland ein schönes Leben haben!“ und zum andern eben nicht mehr wegsehen kann!
 
Zumindest ging es mir so, als ich im Rahmen meines Nepal Aufenthaltes Mai bis September 2011 vor ihr stand. SIE war eine nepalesische Frau von schätzungsweise 60 Jahren und lag beim Durbar Square, dem Platz vor dem ehemaligen Palast, der Hauptstadt Kathmandu inmitten des Weltkulturerbes zwischen den Tempeln. Um sie herum ihre wenigen Besitztümer: ein bunter Rucksack, eine Wasserflasche und ein zum Schutz gegen die sengende Sonne aufgespannter Regenschirm. Sie trug trotz der Hitze mehrere Lacken schmutzige, zerlumpte Kleidung, lag mit offenem, zahnlosem Mund auf dem Rücken und auf den ersten Blick dachte ich, sie sei tot!

 Irritiert blieb ich stehn und wunderte mich, wieso alle so ungerührt an ihr vorrüber gingen. Nach dem ich etwas näher getretten war, fiel mir bei genauerem Hinsehen auf, dass sie atmete und beim nächsten tiefen Atemzug meinerseits, dass sie vermutlich inkontinent war. Sie schien schon länger dort zu liegen, denn der Schirm schützte schon längst nicht mehr vor der Sonne, die ihr erbarmungslos auf das wettergegerbte Gesicht schien, was sie allerdings nicht zur Kenntnis zu nehmen schien. Regungslos lag sie da und ebenso regungslos stand ich vor ihr und sah sie an. Das Getümmel um mich herum, der Lärm, die Hitze... alles schien weit weg. Ein unbändiges Bedürfnis ihr zu helfen stieg in mir auf!
 

Aber wie?... Sie hatte ja offensichtlich nicht die finanziellen Mittel, sich zu versorgen... Kein Krankenhaus, keine Pflegeeinrichtung, NIEMAND würde sich um sie kümmern, ohne Bezahlung. Ich selbst hatte auch nicht genug, arbeitete ich doch zu diesem Zeitpunkt bereits den vierten Monat unentgeltlich in diesem Land und meine Ersparnisse waren schon längst nicht mehr existent. In meinem Kopf ging ich alle eventuellen Möglichkeiten durch und kam zu der Erkenntnis, dass ich ihr schlichtweg nicht helfen konnte! Ich musste sie genauso wie all die andern dort liegen lassen und ihrem Schicksal überlassen.
 

Ich erinnere mich noch sehr gut, wie bitter sich diese Erkenntnis angefühlt hat und wie schwer es mir fiel weiter zu gehen...


Dieses Mal war es nicht nach kurzer Zeit vergessen, im Gegenteil: Es beschäftigte mich, nagte an mir... Ich zog Erkundigungen ein, wie es soweit kommen kann.



In Nepal ist die Familie der wichtigste Teil des sozialen Gefüges und ältere Menschen normalerweise sehr geachtet. Kann jemand im Alter nicht mehr selbst für sich sorgen, übernimmt dies die Familie... sofern man denn eine hat! Die Dame am Durbar Square hatte anscheinend keine...



Ich fand einige Altenpflegeeinrichtungen, von denen allerdings nur eine einzige unengeltlich Bewohner zur Pflege aufnahm. Es war das einzige staatliche Altersheim in ganz Nepal und wurde aber neben den staatlichen Mitteln auch durch Spenden finanziert, die hauptsächlich von Einheimischen kamen. Pflegerisch unterstützt wurde die Einrichtung durch Schwestern des Mutter Theresa Ordens aus Kaltkutta und ehrenamtlichen Helfern aus der ganzen Welt, allerdings nur 3 Stunden täglich. Ansonsten mussten die Bewohner selbst sehen, wie sie klar kamen.



Auch ich half eine Zeit lang in der Einrichtung mit, um mir ein besseres Bild über die Zustände machen zu können. Was ich vorfand ist kaum in Worte zu fassen. Die Ordensschwestern haben sich sehr bemüht und ich hab in meinem Leben selten so gute Menschen kennengelernt, doch ihnen fehlten einfach die Mittel und das Personal, um es besser meistern zu können. Meine Zeit dort zählt zu den schockierendsten und prägendsten Erfahrungen, die ich je machen durfte und ich bereue keine Sekunde, die ich mitgeholfen habe.



 Das Wort „Leid“ erhielt eine neue Bedeutung für mich und den enge Kontakt und Umgang mit den Heimbewohnern werde ich nie vergessen.



Es ist mir unmöglich diese Erfahrungen einfach zu den Akten zu legen und weiter zu machen wie gehabt. Ich kam zu dem Entschluss, dass jemand etwas unternehmen musste!

 Noch etwas später traf ich den Beschluss, dass das wohl ich sein werde...

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen