Tja, spätestens dann ist eben der Moment gekommen, in dem
einem zum einen auffällt: „Okay, es stimmt tatsächlich, dass wir in Deutschland
ein schönes Leben haben!“ und zum andern eben nicht mehr wegsehen kann!
Zumindest ging es mir so, als ich im Rahmen meines Nepal
Aufenthaltes Mai bis September 2011 vor ihr stand. SIE war eine nepalesische
Frau von schätzungsweise 60 Jahren und lag beim Durbar Square, dem Platz vor
dem ehemaligen Palast, der Hauptstadt Kathmandu inmitten des Weltkulturerbes
zwischen den Tempeln. Um sie herum ihre wenigen Besitztümer: ein bunter
Rucksack, eine Wasserflasche und ein zum Schutz gegen die sengende Sonne
aufgespannter Regenschirm. Sie trug trotz der Hitze mehrere Lacken schmutzige, zerlumpte
Kleidung, lag mit offenem, zahnlosem Mund auf dem Rücken und auf den ersten
Blick dachte ich, sie sei tot!
Aber wie?... Sie hatte ja offensichtlich nicht die
finanziellen Mittel, sich zu versorgen... Kein Krankenhaus, keine
Pflegeeinrichtung, NIEMAND würde sich um sie kümmern, ohne Bezahlung. Ich
selbst hatte auch nicht genug, arbeitete ich doch zu diesem Zeitpunkt bereits
den vierten Monat unentgeltlich in diesem Land und meine Ersparnisse waren
schon längst nicht mehr existent. In meinem Kopf ging ich alle eventuellen
Möglichkeiten durch und kam zu der Erkenntnis, dass ich ihr schlichtweg nicht
helfen konnte! Ich musste sie genauso wie all die andern dort liegen lassen und
ihrem Schicksal überlassen.
Ich erinnere mich noch sehr gut, wie bitter sich diese
Erkenntnis angefühlt hat und wie schwer es mir fiel weiter zu gehen...
In Nepal ist die Familie der wichtigste Teil des sozialen
Gefüges und ältere Menschen normalerweise sehr geachtet. Kann jemand im Alter
nicht mehr selbst für sich sorgen, übernimmt dies die Familie... sofern man
denn eine hat! Die Dame am Durbar Square hatte anscheinend keine...
Auch ich half eine Zeit lang in der Einrichtung mit, um mir
ein besseres Bild über die Zustände machen zu können. Was ich vorfand ist kaum
in Worte zu fassen. Die Ordensschwestern haben sich sehr bemüht und ich hab in
meinem Leben selten so gute Menschen kennengelernt, doch ihnen fehlten einfach
die Mittel und das Personal, um es besser meistern zu können. Meine Zeit dort
zählt zu den schockierendsten und prägendsten Erfahrungen, die ich je machen
durfte und ich bereue keine Sekunde, die ich mitgeholfen habe.
Es ist mir unmöglich diese Erfahrungen einfach zu den Akten
zu legen und weiter zu machen wie gehabt. Ich kam zu dem Entschluss, dass
jemand etwas unternehmen musste!
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